Werner Bätzing:
Zweitwohnungen im Alpenraum - eine selbstzerstörerische Entwicklung
Zweitwohnungen gibt es seit Beginn der touristischen Entwicklung. Dies belegen die großbürgerlichen Villen am Semmering, in Bad Gastein oder St. Moritz, die zeitgleich mit den großen Palast-Hotels entstehen. Lange Zeit sind sie kein Problem, weil ihre Zahl begrenzt ist. Erst als im Verlauf der 1960er Jahre der Tourismus zum Massenphänomen wird und Zweitwohnungen in Form von Appartement-Wohnblocks, Hochhäusern und großen Ferienwohnungssiedlungen auch für die Mittelschicht erschwinglich werden, explodiert ihre Zahl.
Die öffentliche Diskussion darüber beginnt im Jahr 1975 mit dem Buch von Jost Krippendorf „Die Landschaftsfresser“. Es folgen zahlreiche Analysen in vielen Alpenregionen, dieses Problem spielt im großen Man-and-Biosphere-Forschungsprogramm in den Schweizer Alpen eine relevante Rolle (Krippendorf: „Alpsegen - Alptraum“, Messerli: „Mensch und Natur im alpinen Lebensraum“), und dieses Thema zieht sich als eines der zu lösenden Probleme durch die gesamte Alpenkonvention.
Lange Zeit gilt die Aussage von Jost Krippendorf: „Die Instrumente wären vorhanden. Woran es fehlt, ist bloss die Durchsetzung.“ Doch dann nehmen die Schweizer Stimmbürger im Jahr 2012 überraschenderweise die Volksinitiative „Schluss mit dem uferlosen Bau von Zweitwohnungen“ an und limitieren den Neubau von Zweitwohnungen im Schweizer Alpenraum streng, während es im übrigen Alpenraum zwar auch eine Reihe von Beschränkungen gibt, die jedoch oft umgangen werden.
Mit der Corona-Pandemie verschärft sich das Problem noch einmal: Eine Zweitwohnung dient jetzt dazu, zeitweilig auf dem Land in größerer Sicherheit leben und hier zugleich seine Arbeit im Homeoffice in attraktiver Umgebung erledigen zu können. Dadurch steigt die Nachfrage nach Zweitwohnungen im Alpenraum stark, was die damit verbundenen Probleme noch einmal deutlich erhöht. Daher ist es sehr zu begrüßen, dass im Land Salzburg eine breite Plattform entsteht, die diese Problematik aufgreift und Lösungen dafür erarbeitet.
Der Stellenwert von Zweitwohnungen im Alpenraum
Da es keine alpenweite Statistik für Zweitwohnungen gibt, muss ihre Zahl auf eine aufwendige Weise erhoben werden. Roger Sonderegger hat im Rahmen einer von mir betreuten Dissertation die Zweitwohnungen des gesamten Alpenraums für das Jahr 2000 auf Gemeindeebene und auf der Basis der nationalen Wohnungsstatistiken erhoben, und dies ist nach wie vor die verlässlichste statistische Grundlage, die es dazu gibt. Er zählt insgesamt 1,98 Millionen Zweitwohnungen im Alpenraum (Alpenabgrenzung nach Alpenkonvention), und dies entspricht einem Anteil von 26% an den Erstwohnungen im Alpenraum. Damit handelt es sich bei den Zweitwohnungen um ein sehr relevantes Phänomen.
Bei der räumlichen Verteilung der Zweitwohnungen fällt auf, dass sie sich auf eine ähnliche Weise wie die touristischen Betten im Alpenraum konzentrieren: Über 90% der Alpengemeinden haben weniger als eintausend Zweitwohnungen (für viele kleine Gemeinden sind dies jedoch bereits hohe Werte), und fast die Hälfte aller Zweitwohnungen der Alpen konzentrieren sich in lediglich 400 Gemeinden (7% aller Alpengemeinden), in denen es pro Gemeinden zwischen 1.000 und 12.000 Zweitwohnungen gibt. Dies sind Gemeinden mit einer hohen touristischen und landschaftlichen Attraktivität und mit einer guten Erreichbarkeit von den großen Zentren.
Damit handelt es sich bei den Zweitwohnungen um ein sehr relevantes Phänomen im Alpenraum, das einmal dezentral-flächenhaft und zum anderen räumlich hochkonzentriert auftritt.
Ursachen für diese Entwicklung
Die Ursache für diese Entwicklung ist die schwierige Situation der Wirtschaft in den Alpen: Die Landwirtschaft geht seit den 1950er Jahren stark zurück, das traditionelle Handwerk verliert dadurch sowie durch die industrielle Produktion seine Grundlage, und die wenigen traditionellen Dienstleistungen geraten ebenfalls in Schwierigkeiten. In dieser Situation erscheint der Bau von Zweitwohnungen als „Zaubermittel“, um eine Alpengemeinde ohne große Anstrengungen wirtschaftlich wieder aufzuwerten: Die Bauern vor Ort werden durch den Verkauf von Landwirtschaftsflächen ökonomisch saniert, die Handwerksbetriebe, die sich auf den Bau von Zweitwohnungen konzentrieren, erhalten wieder eine gesicherte Zukunft, und die lokalen Politiker, die diesen Aufschwung in die Wege leiten und von ihm profitieren, werden wiedergewählt.
Hat eine solche Entwicklung erst einmal begonnen, so erhält sie schnell eine sich selbst verstärkende Dynamik: Immer mehr Bauern wollen ebenfalls von einem Verkauf profitieren, die Betriebe der Baubranche benötigen unbedingt Folgeaufträge, um ihre Arbeitsplätze sichern zu können, und die Lokalpolitiker wollen auch in der nächsten Gemeindewahl wieder gewählt werden: Daraus erwächst der Zwang, die eingeschlagene Richtung fortzuführen und immer weiter Zweitwohnungen zu bauen, denn ein Stillstand würde das bislang Erreichte gefährden.
Lange Zeit sind in einer Alpengemeinde die Kritiker dieser Entwicklung gegenüber denen, die von dieser Entwicklung profitieren, und gegenüber denen, die hoffen, davon in Zukunft noch profitieren zu können, in der Minderheit. Dies ändert sich jedoch im Laufe der Zeit, je deutlicher sichtbar wird, dass die Auswirkungen dieser Entwicklung zu immer größeren kulturellen, ökologischen und wirtschaftlichen Problemen führen.
Wirtschaftliche Folgen
Je mehr Zweitwohnungen gebaut werden, desto stärker steigen die Bodenpreise, und sie erreichen nach einiger Zeit ein Preisniveau, das es Einheimischen ohne eigenen Grund verunmöglicht, sich in ihrer Gemeinde ein Grundstück zu kaufen und darauf ein Haus zu bauen. Dies wurde in den Bayerischen Alpen in den 1980er Jahren polemisch mit „bayerische Heimatvertriebene“ bezeichnet.
Je mehr Zweitwohnungen gebaut werden, desto mehr Infrastrukturen – Wasser, Abwasser, Strom, Straßen – muss die Gemeinde bereitstellen. Auch wenn diese Infrastrukturen nur selten genutzt werden – zu bestimmten Stoßzeiten jedoch sehr intensiv! -, so ist ihr Bau und ihr Unterhalt für die Gemeinde teuer und wird im Laufe der Zeit immer aufwendiger.
Je mehr Landwirtschaftsflächen in Bauland umgewandelt werden, desto stärker wird die Landwirtschaft zurückgedrängt, denn es werden in der Regel landwirtschaftlich gut nutzbare Flächen umgewidmet, weil Waldflächen nicht gerodet werden dürfen und ertragsarme Steilflächen als Bauland ungeeignet sind. Dadurch wird der Rückgang der Landwirtschaft noch zusätzlich beschleunigt.
Kulturelle Folgen
Eine Gemeinde, in der viele Wohngebäude zu großen Teilen des Jahres mit geschlossenen Fensterläden dastehen, verliert allmählich ihre Lebendigkeit. Und mit dem Rückgang der traditionellen Kulturlandschaft, deren spezifische Prägung für die Einheimischen „Heimat“ bedeutet, und ihrer Ersetzung durch gesichtslose und austauschbare Siedlungsstrukturen, wird der Bezug zum Heimatort geschwächt.
Wenn darüber hinaus die Bauern verschwinden, und engagierte Einheimische den Ort verlassen, weil sie die Baulandpreise nicht bezahlen können, dann kann eine solche Gemeinde schnell ihre traditionelle kulturelle Identität verlieren und zu einer anonymen Wohngemeinde werden.
Ökologische Folgen
Der Bau von Zweitwohnungen erfordert sehr viele Flächen, weil solche Bauten mit großen Abständen zueinander errichtet werden. Und in der Regel werden dafür landschaftlich exponierte Lagen mit „schöner Aussicht“ gewählt, die von weitem sichtbar sind.
Dadurch wird der Landschaftsverbrauch, die Versiegelung von Flächen und die Zersiedlung der Landschaft stark vorangetrieben, was bis zur Verstädterung, besser: zur „Vervorstädterung“ der Landschaft führen kann. Die Zwischenräume zwischen den Siedlungsflächen werden im Laufe der Zeit immer kleiner, und sie werden „verinselt“ (auf fast allen Seiten von Siedlungsflächen eingeschlossen), was zu ihrer ökologischen Verarmung und Entwertung führt.
Dabei verschwinden die traditionellen bäuerlichen Kulturlandschaften mit ihrer ausgeprägten Kleinräumigkeit und ihrer großen ökologischen Vielfalt, und sie werden durch artenarme und banale Siedlungsflächen versetzt – die Landschaft verliert ihre Kleinräumigkeit, Artenvielfalt, Identität und Attraktivität.
Aktuelle Entwicklung
Je länger diese Entwicklung andauert, desto größer wird ihre Eigendynamik: Den größten Gewinn machen die Projektentwickler, die Baumfirmen finden immer weniger einheimische Fachkräfte, und die Zweitwohnungen gefährden bzw. verdrängen den lokalen Tourismus – der Gewinn bleibt immer weniger in der Gemeinde und fließt immer stärker in die großen Zentren.
Zusammenfassende Bewertung
Es liegt auf der Hand, dass diese Entwicklung so nicht dauerhaft weitergehen kann, denn sie zerstört ihre eigenen ökologischen und kulturellen Voraussetzungen, und am Ende, wenn es kein geeignetes Bauland mehr gibt, brechen auch die davon abhängigen Arbeitsplätze zusammen.
Deshalb ist es dringend notwendig, diese selbstzerstörerische Entwicklung möglich schnell zu beenden, und stattdessen auf eine Entwicklung zu setzen, die die lokalen Potenziale der Gemeinde auf eine dauerhafte Weise nutzt und dabei aufwertet (lokaltypische Qualitätsprodukte in Landwirtschaft und Handwerk, Tourismus auf der Grundlage von lokalen Besonderheiten). Diese Entwicklung ist zwar wesentlich schwieriger umzusetzen als das „Zaubermittel“ Zweitwohnungen, sie eröffnet jedoch einer Gemeinde eine nachhaltige Zukunftsperspektive.
Literatur zur Vertiefung
Bätzing, Werner: Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft. München 2015.
Krippendorf, Jost: Die Landschaftsfresser. Tourismus und Erholungslandschaft – Verderben oder Segen? Bern 1975, 41986.
Krippendorf, Jost: Alpsegen – Alptraum. Für eine Tourismusentwicklung im Einklang mit Mensch und Natur. Bern 1986.
Messerli, Paul: Mensch und Natur im alpinen Lebensraum. Risiken, Chancen, Perspektiven. Bern 1989.
Sonderegger, Roger: Zweitwohnungen im Alpenraum. Bewertung des alpenweiten Bestandes und der Situation in der Schweiz in Bezug auf eine Nachhaltige Entwicklung. Saarbrücken 2014.